Mein Gegenüber ist ein seltener, dafür umso mehr geschätzter Gast. Die üppige Mähne inzwischen weiß: Ex-CEO eines 10 Mrd. Euro Unternehmens und erfahrener Aufsichtsrat. Irgendwer hatte ihm mal eine „schwierige Benutzeroberfläche“ attestiert.
Ich kenne ihn als eckig, kantig und ehrlich. Eine Gemengelage, die ich sehr schätze.
Den Chat Sauvage Pinot Noir, Assmannshäuser Höllenberg, serviere ich sicher nicht jedem. Ihm schon.
„Ich hätte nicht gedacht, dass der Rheingau derart gute Rote hervorbringt!“, beginnt mein Gast diesen denkwürdigen Abend.
„Hab‘ ich mir auch mal nicht vorstellen können!“
„Sie haben sich so manches nicht vorstellen können, Herr Becker…“
„Ich empfange Signale, die auf eine unterschwellige Kritik hindeuten könnten…“
„Nicht unbedingt, Herr Becker. Aber es ist halt so: Sie sind noch immer Ihren Mitmenschen Jahre voraus. Und Sie denken noch immer, das sei normal – und dass die Ihnen alle gutgelaunt folgen!“
„Oh, nein, das denke ich längst nicht mehr!“
„Ach ja?“
„Ja, ich habe über lange Jahre gelernt, dass ich viele Menschen erschrecke – und deshalb nehme ich mich viel mehr zurück…“
„Ach ja? Ich denke, Sie machen sich da etwas vor.“
„Mhm… Worauf gründet Ihre Einschätzung?“
„Nun schauen Sie: Sie sprechen mit einer entwaffnenden Selbstverständlichkeit von General Interest Plattformen und von Special Interest Plattformen. Und Ihr Partner schreibt ellenlang dazu. Und obendrein liefern Sie Videos über vertikale und horizontale, offene und geschlossene Plattformen – und was weiß ich noch!“
„Ja, so heißen die Dinge nun mal – und das ist leider Gottes die unterliegende Logik!“
Die Masse versteht Sie nicht!
„Richtig! Aber leider Gottes versteht Sie die Masse nicht. Ich behaupte, die weit überwiegende Mehrzahl der Interim Manager weiß nicht, wie eine Plattform funktioniert. Und ich bin mir sicher: Die allermeisten können den Begriff „Plattform-Ökonomie“ nicht einmal richtig einordnen.“
„Ich glaube, ich hole uns noch eine Flasche…“
„Gern!“
….
„Um auf Ihren Punkt von vorhin zurückzukommen: Das ist aber durchaus ein sehr kritisches Urteil, das Sie da abgeben!“
„Wenn ich so auf mein Berufsleben zurückschaue und auch darauf, wie wir an die Interim Manager gekommen sind: Denken Sie nur an Herrn [Name gestrichen]. Das waren ganz überwiegend gute Leute. Aber wenn Sie sich mal anschauen, wie die an ihre Mandate gekommen sind: Alles faule Säcke! Warten darauf, dass ich anrufe! Oder sonst wer: ein rein opportunistisches Verhalten.“
„Meinen Sie wirklich?“
„Na, nun tun Sie doch nicht so! Damals wie heute: Die allermeisten Interim Manager warten darauf, dass irgendjemand anruft: Einer aus dem eigenen Netzwerk so wie ich vielleicht oder aber ein Provider. Dass die zweite Option dann teuer wird, spielt keine Rolle. Natürlich nicht, wenn Du sonst kein Projekt bekommst!“
„Das ist einer der Gründe, weshalb wir UNITEDINTERIM aufgebaut haben.“
„Klar, Ihre offene, vertikale, Special Interest Plattform! – Großartig!“
„Nicht großartig?!“
„Ich denke nicht. Denn Sie unterstellen, dass bequeme Opportunisten sich hier herausfordern lassen. Ich denke, da irren Sie gewaltig!“
Die Zeiten des opportunistischen Vertriebs sind vorbei!
„Meinen Sie wirklich?!“
„Absolut. Ist viel zu aufwendig, wenn Du darauf geeicht bist, Deine eigene Vergangenheit zu vermarkten – was ich keineswegs entwerten möchte. Jedoch verstehen die allermeisten Interim Manager nicht, dass sie sich auf einer Plattform nicht bloß zurücklehnen und abwarten können, wenn es – read my lips – darum geht, seine eigene digitale Identität aufzubauen. Sie verstehen nicht, dass auf einer Plattform die Zeiten des opportunistischen Vertriebs vorbei sind. Nicht nur auf einer Plattform übrigens.“
„Stimmt!“
„Zudem: Alle Interessengruppen kolportieren seit Jahren mit schöner Regelmäßigkeit und Presse-unterstützt, dass das Interim-Business wachse und weiterhin stark wachsen werde. Wenn es denn dann tatsächlich so sein sollte, wird damit zwingend ein härterer Wettbewerb einhergehen! Das ist kleines VWL-Einmaleins – wird jedoch vollkommen ausgeblendet!“
„Stimmt! Ich habe mal geschrieben „Weitermachen wie bisher ist nicht mehr!“
„Genau das aber hat die Mehrzahl der Interim Manager nicht erkannt. Also müssen Sie denen helfen, dies zu erkennen…“
„Eine heroische Aufgabe!“
„Sicher. Aber mit Ihrem intellektuellen Ansatz wird das ganz sicher noch schwerer!“
„Es hätte so ein schöner Abend werden können…! Aber im Ernst: Haben Sie einen Rat für mich?“
Er: Schweigt und nimmt einen Schluck Wein.
Ich: Schweige. Mein Schluck ist größer…
„Ihr krass neuer Ansatz ist völlig richtig. Aber eben auch völlig neu – und hier liegt ein großes Problem! Denn weil Ihr Ansatz so neu ist, wird er von vielen nicht verstanden, die in dieser Welt noch nicht zuhause sind.“
„Stimmt leider! Verblüffend viele ordnen uns als Provider ein. Nichts könnte falscher sein!“
„Sehen Sie?! Gehen Sie deshalb sprachlich in die Welt, die den Menschen vertraut ist und suchen Sie dort nach vertrauten Bildern!“
„Zum Beispiel?“
„UNITEDINTERIM ist ein Shopping Center!”
“Ein Shopping Center?”
“Ein Shopping Center für das Interim-Business!“
Ich muss Zeit gewinnen – und greife – eine Übersprunghandlung? – erneut zu meinem Glas.
„Meinen Sie wirklich?“
„Schauen Sie sich doch mal ein Shopping Center in der analogen Welt an: Hier bieten die unterschiedlichsten Dienstleister an. Bei UNITEDINTERIM ist das auch so.“
„Stimmt: Interim Manager und Managerinnen, Sixt, forma interim, Creditreform, Assecon, Flexpayment…“
„All die, die Sie jetzt genannt haben, mieten eigene Ladenflächen bei Ihnen und bieten ihre Dienstleistungen – Obacht! Später kommen vielleicht noch Waren hinzu – allen Interessenten an, die das Shopping Center betreten. Die Interessenten entscheiden dann, wo sie was und wann kaufen. Darauf haben Sie keinen Einfluss.“
„Richtig. Unsere Hauptaufgabe ist es stattdessen, möglichst viel Interessenten anzuziehen!“
„Korrekt. In Ihrer Welt heißt das Traffic. Und deshalb bewerben Sie das Shopping Center auf Teufel komm raus. Inzwischen wohl deutlich sichtbar.“
„Stimmt: Über Twitter, Xing, LinkedIn und YouTube! Hinzu kommt der SEO-Aufwand, den wir betreiben.“
„Und künftig machen Sie vielleicht noch mehr: Events, Sonderangebote oder Kochkurse – alles im übertragenen Sinne natürlich.“
„Tatsächlich diskutieren wir so etwas in der Art…“
„In diesem Bild kommen Sie übrigens zwingend weg vom Provisionsmodell – obwohl Sie das in späterer Zukunft noch draufsatteln könnten. Ebenso, wie Sie WKZs verlangen könnten. Da ist noch jede Menge drin. Aber jetzt, jetzt muss jeder, der Verkaufsfläche im Shopping Center haben möchte, halt einen Laden mieten. Dafür haben Sie im Vorfeld und allein die Baukosten für das komplette Shopping Center getragen und jetzt tragen Sie die kompletten Betriebskosten.“
„Und das nicht zu knapp!“
„Sie werden auch nicht jeden in Ihr Shopping Center ‘reinlassen. Wer nicht dem Gesamtkonzept entspricht, bleibt sicher draußen – selbst, wenn er die Miete zahlen wird.“
„Das ist unsere Qualitätssicherung!“
„Und auf der anderen Seite werden Sie nicht jeden Interim Manager und jede Interim Managerin als Kunden gewinnen können: Einige werden weiterhin aufs Klinkenputzen setzen, andere werden weiter verzweifelt darauf warten, dass jemand anruft und wieder andere werden ihre Dienstleistung über einen Bahnhofskiosk in Pusemuckel anbieten.“
Ein letzter Schluck steht zwischen mir und der krachenden Erkenntnis.
„Donnerwetter! Das passt!“
„Sehen Sie!“
Ich schweige. Wir halten den Blickkontakt, greifen zu den Gläsern und stoßen an.
„Ich heiß‘ James: Schenk noch mal ein…!“